Das Besondere am Krebsproblem - eine Unterhaltung mit einem, der wissen könnte

Montag, 13. Dezember 1999

Ein Krebsproblem als solches besteht nicht. Es ist ein Fiktion der Menschen, die das Besondere am Krebs herauslösen möchte aus dem Allgemeinen der menschlichen Erkrankung, und diese wiederum ist einer besonderen Sichtweise unterworfen, wie sie für unsere Zeit bestimmend ist.

Damit meine ich das medizinische Denken, wie es dem medizinischen Wissen obliegt, und darunter liegt insofern, als Denken Wissen und Wissen Denken im Wechselspiel hervorbringen.

Und das ist das Besondere am Krebsproblem, das es zu analysieren gilt, wenn man überhaupt von einem Krebsproblem in allgemeiner Weise sprechen möchte, und das will ich getrennt halten von dem besonderen Fall, wo uns ein Mensch begegnet, dem man die Diagnose Krebs gestellt hat, oder der Angst davor hat, die Diagnose Krebs gestellt zu bekommen.

Das Besondere also am Krebsproblem ist, daß wir es geschaffen haben in der Art und Weise, wie wir heute das Krankheitsbild des Menschen sehen, und das schließt sowohl ein Beschreiben im Symptomatischen, als auch ein Analysieren im Beständigen der Diagnosestellung ein.

Letzteres ist vielleicht nicht klar, und ich will es noch einmal am Beispiel wiederholen: ein Mensch, der zum Arzt geht, welcher sich der 'Schule' verpflichtet weiß (und das sind noch immer die meisten Ärzte), begibt sich gleichsam hinein in den 'Palast der medizinischen Wissenschaften', die sich selbst als ein königliche verstehen, und wohl auch als eine königliche bezeichnet werden können, insoweit sie das Menschliche in einer besonderen Weise vertreten. Und das mag dem Einen schmecken und dem Anderen nicht - es ist so, denn die Frage von Gesundheit und Krankheit ist eine zentrale Frage des Menschen, und sie liegt ihm näher an der Haut, als die philosophische Frage: "Woher komme ich?", "Wohin gehe ich?".

Und doch ist das Eine nicht vom Anderen zu trennen, und obgleich es heute getrennt wird und nicht beieinander gelassen wird, sondern in den verschiedenen Fachrichtungen isoliert abgehandelt wird, impliziert die eine Frage die andere.

So wird es gut sein, und ich habe es des öfteren gesagt, das philosophische Element wieder in die Medizin hineinzutragen, so wie sich ja auch einzelne Philosophen der Frage von Gesundheit und Krankheit zuwenden, und hier verweise ich nur auf die beiden mir bekannten Beispiele GADAMER und C.F. v.WEIZSÄCKER.

Das ist nun nicht so erhebend, daß es einer nennenswerten Beachtung bedürfte, denn beide Philosophen sind innerhalb ihres Kreises (oder ihrer 'Zunft') eher Außenstehende, und sicherlich nicht so zentrale Figuren, wie es Heidegger oder Sartre oder ... in diesem Jahrhundert gewesen sind. Daher will ich mich mehr dem medizinischen Teil der Frage zuwenden und fragen, warum es den Medizinern nicht aufgegangen ist, daß sich hier ein Problem zuspitzt und auf einen Krankenstand zuschneidet, das wir im Krebsproblem analytisch angehen. Und so wie heute bekannt ist, daß die 'synthetische Denkweise' der 'analytischen' komplementär ist und ihr hinzuzunehmen ist, und dies im 'regulativen' oder 'kybernetischen' Denken teilweise auch versucht wird, so müßte der Frage, wie es denn zur Krebsentstehung kommt (und damit meine ich das ganze physiologische, anatomische, histologische, biochemische, molekularbiologische usw. Wissen unserer Zeit) entgegen gesetzt werden die Frage, wie denn diese Entwicklung in die allgemeine Entwicklung des Menschen einzuordnen wäre.

Und auch hier gibt es bereits reichlich Beispiele, die ich nicht alle kenne, und doch wenigstens dem Namen nach zitieren kann, und so möchte ich darauf verweisen, daß es psychosomatische wie auch soziologische (oder sozialdynamische, wie ich sie lieber nenne) Zusammenhänge gibt, die bereits erkannt und beschrieben sind, und nach denen zum Teil auch therapiert wird.

Das sage ich, obwohl ich weiß, daß es nach keinem der heute gängigen Konzepte, seien sie nun allgemein anerkannt oder in kleinen Gruppen vertreten, möglich ist, eine vollwertige Krebstherapie zu machen. Das will ich mit dem begründen, was ich in diesem Kapitel sage, und komme daher wieder zum Ausgangspunkt unserer Frage, die gleichsam einen Schnittpunkt darstellt, der sich uns am Einzelnen offenbart. Denn am Ende ist es der Einzelne, der uns die Krankheit entgegenbringt, und es ist der Einzelne, der von dieser Krankheit genesen oder an ihr sterben wird, und auch dies ist eine Fiktion, die wir ihm überstülpen, denn er wird gesund oder stirbt ganz nach seinem eigenen Willen, und diesen können wir nicht nach allgemein gültigen Maßstäben beurteilen.

So wir es tun, kommen wir in die Krebsproblematik, und diese ist es, die ich aufzeigen will, und sie besteht zum Teil - und damit meine ich eine Facette eines vielgestaltigen Bildes - darin, daß wir das Individuelle dem Allgemeingültigen als minderwertig unterordnen. Und das Allgemeingültige ist in der Wissenschaft stärker vertreten als in der Politik, wo wir immerhin über politische Richtungen abstimmen können und eine demokratische Grundordnung unser eigen nennen - auch wenn ich zugeben will, daß sie hin und wieder und an dieser und jener Stelle im Argen liegen mag.

Doch in der Wissenschaft ist es anders, und man kann nicht darüber abstimmen, welche Richtung wir nun in der Medizin vertreten wollen. Und wenn ich 'Wissenschaft' sage, so meine ich zum wiederholten Mal die dominierende Naturwissenschaft. Daß auch diese nicht eine Wissenschaft im üblichen Sinne ist, sondern ein Konglomerat aus vielen Einzelströmungen, die sich durchaus zueinander widersprüchlich verhalten können, will ich an anderer Stelle aufzeigen und doch hier darauf verweisen, daß das gemeinsame Band dieser Naturwissenschaft(en) der einigende Glaube ist, es handle sich um bewiesene Tatsachen.

So beruft sich die Naturwissenschaft in toto auf bereits erkannte Gesetze und macht sich zum alleinigen Verwalter dieser geschauten Gesetze, von denen sie annimmt, daß sie nicht nur allgemeingültig, sondern auch von Bestand sind.

So wird niemand daran zweifeln, daß das Gravitationsgesetz auch heute noch gültig ist und wir nicht ständig den Beweis wiederholen müssen, den unsere Väter und Vorväter bereits angetreten haben, und allenfalls mindere Korrekturen finden würden, die sich (um ein Beispiel zu nennen) in nachgeordneten Stellen hinter dem Komma einer Naturkonstanten abspielen. Ich will diesen Punkt besonders hervorheben, denn das begründet die Autorität der Wissenschaft, die eine allmächtige zu sein scheint, und die um so vieles allmächtiger wird, als der 'allmächtige Gott', an den wir einst glaubten, von seiner 'Allmacht' eingebüßt und an die Wissenschaft abgegeben zu haben scheint.

So haben wir das 'ewig waltende Naturgesetz' an die Stelle eines 'ewig waltenden Schicksals' und eines 'unbarmherzigen Gottes' gesetzt, und damit etwas verschlimmert, das wir der Kirche noch weiterhin ankreiden, wenn wir behaupten, sie habe sich der Allmächtigkeit Gottes bedient und damit ihre eigene Macht begründet.

Das ist nun um nichts besser, was wir heute tun - ganz im Gegenteil, denn es fällt niemanden ein, das allgewaltige Naturgesetz anzurufen und es um Gnade zu bitten oder von ihm Hilfe zu erflehen, denn das ist so nutzlos wie das Anrufen eines Steines, und das wird uns in alten Bildern bereits als überflüssig beschrieben. Und doch wird uns in der Sprache mitgeteilt, daß es ein Weinen gibt, das selbst einen 'Stein erweichen' könne. So mag es den einen oder anderen geben, der noch an Wunder glaubt und diese Wunder für möglich hält, und das wiederum ist nur möglich, wenn er dem 'allmächtigen Naturgesetz' ein klein Wenig abtrotzt und ihm entgegenhält, daß es vielleicht über dem Naturgesetz etwas geben könne, das einer Bitte würdig sei und das Ohren habe um zu hören, und dem man noch heute den alten Satz nachtragen kann: "Bittet, so wird euch gegeben! Klopfet an, so wird euch aufgetan!".

Und so hoffe ich, daß jeder, der diesen Text liest, bei sich einmal nachspürt, welchen Stellenwert er dem allgemeinen Naturgesetz - oder den Naturgesetzen, oder den kosmischen Gesetzen oder den kosmischen Abläufen - einräumen möchte und einzuräumen bereit ist, wenn er oder sein Nächster in Not gerät.

Und genau diese Frage ist die zentrale Frage, die es im Krebsproblem anzusprechen gilt, und keiner kommt daran vorbei sie sich anzusehen, wenn er sich nicht den Automatismen der heute gängigen medizinischen Wissenschaft ausliefern möchte.

Doch es gibt noch so viele Menschen, die sich diesen Automatismen ausliefern möchten, und die sie nähren und am Leben erhalten, weil sie ihnen vertrauen und an sie 'glauben', auch wenn dieser Glaube nicht ein bewußter, ausdrücklicher und geäußerter Glaube ist. Und so tut es mir leid, um nicht zu sagen: es brennt mir auf der Seele, diesen Menschen zu sagen, daß sie ihren Glauben und ihr Vertrauen an ein ungnädiges System hängen und verschwenden, wenn es um ihre persönliche Not geht.

Und andererseits weiß ich, daß dieses System, so ungnädig es im Denken ist, doch ein gnädiges sein kann, wenn es sich im Menschen verwirklicht, und so will ich mit diesen Sätzen nicht einen Arzt bescholten oder kritisiert haben, der sich dieses Systems bedient, um seine eigenen Erkenntnisse hervorzubringen.

So kommen wir nicht an dem Dilemma vorbei, das unsere Zeit auszeichnet, daß

· wir das Individuelle mehr und mehr fördern wollen und ihm ein größeres Gewicht geben wollen, einerseits

· und andererseits es nicht fertigbringen, darauf zu verweisen, daß es gerade die Wissenschaft (und hier schließe ich die Geisteswissenschaften nur insofern ein, als sie das wissenschaftliche Grundprinzip anerkennen, über das ich an anderer Stelle sprechen möchte) ist, die uns als Individuum negiert und uns zu einer Null hinter dem Komma macht.

Und wer meint, das sei doch nicht ganz richtig, denn immerhin gäbe es eine Statistik, in der der Einzelne die Zahl Eins repräsentiere, der möge sich die Ergebnisse dieser Statistiken einmal ansehen und feststellen, wo er in diesen als Individuum vorkommt.

Wenn er dies getan hat, wird er mir vielleicht darin beipflichten, daß die Wissenschaft von heute und auch da, wo sie sich der Statistik bedient, nicht daran interessiert zu sein scheint, dem Einzelnen Stimme und seinem Willen Raum und seinen Wertvorstellungen Gewicht zu verleihen.

Und verleihen ist ein unschönes Wort, denn man sollte dies nicht nur verleihen sondern geben und nicht wieder zurückfordern, und schon gar nicht um Zins und Zinseszins.

Und so kommen wir an diesem Dilemma nicht anders vorbei, als es immer wieder aufzudecken und darauf zu verweisen, falls wir es für uns selbst entdeckt haben, daß es genau dieses Prinzip ist, das im Krebsproblem aufscheint und das dem Krebskranken so zu schaffen macht, und das er in seiner eigenen Weise und auf eine von ihm bestimmte und gewählte Art - denn anders vermag ich das Schicksalhafte an diesem Geschehen nicht zu beschreiben - gestaltet.

Und so ist nicht ein Krebsgeschehen dem anderen ähnlich, denn jedes ist individuell, und doch tragen manche dieser Entwicklungen gemeinsame Züge, und es sind gerade diese gemeinsamen Züge, die eine wissenschaftliche Diagnostik berechtigt erscheinen lassen.

So mag es zwar immer wieder Menschen geben, die darauf hinweisen, daß Ähnlichkeiten in den Symptomen nicht unbedingt auf Ähnlichkeiten in den Ursachen schließen lassen, und ich habe solche Aussagen in der Vergangenheit verschiedentlich gehört. Doch wir erliegen alle mehr oder weniger der Faszination einer solchen Klassifizierung, die den Baum zum Baum und den Tisch zum Tisch und das Haus zum Haus macht.

Und wer das leugnen möchte, der sollte bei sich prüfen, wie er denn das Denken bewältigen wollte, wenn er nicht Begriffe und Begriffsklassen bilden könne, und das mag er wohl kaum zu erklären, es sei denn, er ist so verrückt, daß er sich nicht mehr der menschlichen Sprache und nicht mehr der menschlichen Gedanken bedienen mag, und einen solchen Zustand kann ich mir kaum vorstellen geschweige denn gutheißen.

Und so unterliegen wir alle denselben Bedingungen des Denkens, und indem ich dies sage, habe ich bereits klassifiziert, denn ich sage 'Denken' und 'Gedanken' und bilde damit Kategorien, die sich im Gegensatz zu anderen wie denen des Fühlens und Empfindens und Mitleidens befinden. Ich kann dem nicht entrinnen, wenn ich die Sprache wähle um mich auszudrücken.

Daher kenne ich wohl andere Wege der Krebsbehandlung, die gänzlich auf die Sprache verzichten und die sich in einer sprachlosen Weise darum bemühen, anderen Menschen zu helfen, sei es durch Hand auflegen oder durch gegenwärtig sein, oder einfach durch ein einfühlsames Mit-Tragen dessen, was den Kranken beschäftigen mag, ohne zu verstehen und ohne zu wissen, und ohne zu erklären oder in sich analysieren zu wollen.

Und damit habe ich das letzte gesagte, was ich heute zu diesem Punkt sagen möchte, und habe darauf verwiesen, daß es wohl zwei Arten von Wegen gibt, und die einen mehr dem Denken, die anderen mehr dem Fühlen zugewiesen werden können. Welchen Weg wir auch wählen, sei es als Täter oder Opfer, als Patient oder als Arzt, wir werden uns irgendwo im riesigen Spektrum von Möglichkeiten zwischen diesen bewegen.

Ich kenne Ärzte, die sich dessen bewußt sind und sich in diesem Spektrum zu orientieren versuchen, und die Wert darauf legen, dem Analytischen ein andersartiges 'Denken' (falls dieser Begriff überhaupt noch paßt!) entgegenzusetzen, das sich in einer liebevollen Zuwendung und in einem mit-menschlichen Handeln auszudrücken vermag.