Schamanismus stellt die älteste spirituelle Tradition dar, von der wir auf diesem Planeten wissen. Oft wird er nicht einmal als Religion, sondern als reine Bewusstseinstechnik beschreiben, weil schamanische Praktiken sich überall auf der Welt in hohem Maße ähneln und somit in weiten Bereichen kulturunabhängig zu sein scheinen. Den Anspruch, der Schamanismus sei keine Religion, weil es darin keine Gottheiten, sondern nur Tier-, Pflanzen- und sonstige Geister gebe, kann ich allerdings nicht stützen. Meiner Meinung nach beschränkt diese Ansicht den Schamanismus auf eben jene Techniken, die überall auf der Welt zu finden sind und die Michael Harner unter dem Begriff des Kernschamanismus (oder Core-Schamanismus) zusammenfasste. Dieses Konzept lässt jedoch außer Acht, dass diese Grundtechniken an ihren jeweiligen Erscheinungsorten durchaus in begleitende religiöse Vorstellungen, Zeremonien und Glaubenswelten eingebunden wurden (und teilweise heute noch werden!).
Der Schamane lebt in (mindestens) zwei Welten, nämlich in der alltäglichen und in der nichtalltäglichen Wirklichkeit. Erstere bezeichnet das, was der westliche Mensch üblicherweise als einzige Realität betrachtet: jene Welt, in der wir morgens aufstehen, zur Arbeit gehen, unseren täglichen Aufgaben nachkommen, eine Familie haben und abends wieder zu Bett gehen. Die nichtalltägliche Wirklichkeit umfasst darüber hinaus jene Erlebnisse, die wir in Träumen, Tranceerfahrungen und inneren Reisen machen. Schamanisches Denken bezweifelt die Realität dieser Erlebnisse nicht, erkennt jedoch an, dass sie sich in einem anderen Existenzrahmen abspielen als unser Alltag. Die Frage, ob er sich die Ereignisse während einer Trancereise nur eingebildet habe, stellt sich für einen Schamanen nicht, weil er alles, was er in der nichtalltäglichen Wirklichkeit erlebt, als real und gegeben akzeptiert.
Diese nichtalltägliche Wirklichkeit teilt sich in verschiedene Bereiche auf, die man mit Hilfe schamanischer Techniken bewusst aufsuchen und erforschen kann. Am bekanntesten sind hier wohl die untere, die mittlere und die obere Welt, doch auch das Reich der Träume gehört dazu. Um diese Bereiche zu betreten, bedient sich der Schamane der Trance, die durch rasches, monotones Trommeln, durch Tanzen, mit Hilfe psychoaktiver Substanzen oder auch durch körperliche Entbehrungen erreicht werden kann.
In der nichtalltäglichen Welt findet der schamanisch Praktizierende helfende und unterstützende Wesenheiten, die als Kraftwesen bezeichnet werden. Diese können in Gestalt von Tieren, aber auch von anderen Naturphänomenen oder sogar in Form von gottähnlichen, leitenden und führenden Wesenheiten erscheinen.
Das grundsätzliche Ziel schamanischer Arbeit besteht meist darin, die natürliche Balance zu erhalten und die Einbindung des Menschen in dieses Gleichgewicht zu gewährleisten bzw. wieder herzustellen.